Frankfurter Rundschau, 27.09.2002

Täglich 24 Stunden Sorge für das Kind

Bettina Reichardt-Kron betreut ihren Sohn Cedric, der seit fünf Jahren im Wachkoma liegt / Texte: Regine Ebert

SCHWALBACH. "Ich zeig' Ihnen mal ein Video, damit Sie wissen, was ich genau meine", sagt Bettina Reichardt-Kron. Sie spricht über die Pflege ihres mehrfach behinderten Sohnes Cedric. Der Siebenjährige liegt seit einem Unfall vor fünf Jahren im Wachkoma. Er hat eine Hirnschädigung, leidet unter epileptischen Anfällen, muss künstlich ernährt werden.

über den Bildschirm flimmern Bilder eines kleinen Körpers, der sich vor Schmerzen krümmt. Immer wieder krampfen sich die Eingeweide zusammen, versucht das Kind zu schreien, bis das Gesicht blau anläuft. Stundenlang geht das so, Nacht für Nacht. Ärzte konnten ihr bislang nicht weiterhelfen. Die Mutter vermutet, dass sich Kotsteine gebildet haben, verursacht durch die fehlende Bewegung. Gegen 7 Uhr morgens kommt sie zum Schlafen, weil dann auch der Sohn Ruhe findet. Dann ist er völlig erschöpft, genau wie die Mutter. So lange wie möglich versuchen die beiden, den verlorenen Schlaf aufzuholen.

Den Jungen jetzt um diese Tageszeit zu wecken, um ihn in eine Betreuungseinrichtung oder in eine Schule für Behinderte zu geben, käme für Bettina Reichardt-Kron nicht in Frage. "Das bringt weder ihm noch mir etwas", sagt sie, "unser Tagesablauf ist einfach nicht mit den öffnungszeiten solcher Einrichtungen in Einklang zu bringen." Ihn später abzugeben, wenn er aufwacht, sei genauso unmöglich: Zum einen, weil die meisten Einrichtungen an feste Zeiten gebunden sind. Zum anderen, weil für das Kind ein Spezialtransport nötig ist. Sauerstoff- und Beatmungsgerät müssten mitgeführt werden, vor allem aber müsste ständig medizinisch ausgebildetes Personal da sein, um im Notfall eingreifen zu können.

"Im Grunde darf man ihn keine Minute aus den Augen lassen", sagt die Mutter, die ihn nicht einmal allein lässt, um den Müll vor die Tür zu tragen, "Cedrics Zustand kann von der einen Minute auf die andere lebensbedrohlich werden." Die Anzeichen für einen Umschwung könne jedoch nur richtig deuten, wer den Jungen und seine Geschichte genau kennt - ein weiterer Grund, warum es für die 37-Jährige so schwer ist, Unterstützung bei ihrer Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu finden. Ein extremer Fall, doch Bettina Reichardt-Kron weiß von anderen Familien mit schwerstbehinderten Kindern, denen es ähnlich geht. Alle hätten ein ähnliches Problem: "Intensivkinder wie Cedric, die 24 Stunden am Tag Betreuung brauchen, fallen durch alle Netze durch."

Monatlich 665 Euro Pflegegeld bekommt sie von der Pflegekasse für Cedric, der in Pflegestufe III eingruppiert ist. Sie könnte sich auch dafür entscheiden, eine professionelle Pflegekraft bei einem anerkannten Pflegedienst in Anspruch zu nehmen. Dann stünden ihr laut Auskunft des Medizinischen Dienstes (MD) der Krankenversicherung im Monat Leistungen für 1432 Euro zu. "Wird noch weitere Pflege benötigt, muss die Kostenübernahme beim Sozialamt beantragt werden, sofern die Familie nicht selbst leistungsfähig ist", sagt eine Kinderärztin in der Bezirksstelle des MD Hessen in Frankfurt.

"Eine Pflegefachkraft kostet rund 70 Euro in der Stunde. Damit wäre die Leistung der Pflegekasse nach 20 Stunden ausgeschöpft", rechnet Bettina Reichardt-Kron vor. Sie müsste das Sozialamt also in jedem Fall einschalten. Gespräche hat sie bereits geführt und eine Zusage für eine Kostenübernahme bekommen. Doch nun tut sich ein weiteres Problem auf: Für die Mutter kommt nur eine Fachkraft in Frage, die kontinuierlich für die Betreuung ihres Sohnes zur Verfügung stünde. "Ich kann für die Pflege nicht jedes Mal einen anderen anlernen und mit Cedric vertraut machen", begründet sie.

Wie fast alle Eltern behinderter Kinder hat sie sich im Laufe der Jahre ein umfangreiches medizinisches Fachwissen angeeignet. Sie kennt ihren Sohn in entspannten und in kritischen Situationen, sie weiß, welche Medikament er nicht verträgt, merkt rechtzeitig, wenn er eine schwere Atemdepression bekommt oder wenn sich schwallartiges Erbrechen ankündigt, bei dem sich der Magen umstülpt. All dies muss sie einer Betreuungsperson erst vermitteln.

Eine oder zwei feste Personen kontinuierlich für eine Betreuung zur Verfügung zu stellen, ist jedoch vielen Pflegediensten nicht möglich. Aufgrund der verschiedenen Arbeitszeiten und Schichten der Mitarbeiter lasse sich das nur schwer bewerkstelligen, heißt es auf Anfrage bei verschiedenen Diensten. Hinzu kommt, dass Kinderkrankenschwestern bei den Pflegediensten - zumindest im Main-Taunus-Kreis - rar sind. Andere Dienste - etwa die Mobile Kinderkrankenpflege in Frankfurt - arbeiten zwar mit ausgebildeten Kinderkrankenschwestern, können jedoch keine Patienten außerhalb Frankfurts annehmen.

Die verschiedensten Einrichtungen und Träger habe sie angerufen, sagt Reichardt-Kron. Alle bieten gute Dienste an, aber offenbar nicht für Fälle wie den ihren: "Keine Kinderbetreuung", "Nicht für Apalliker" (Wachkoma-Patienten), "Nicht in diesem Rahmen", habe sie immer wieder zu hören bekommen.

Angefragt hatte sie auch bei der Lebenshilfe in Kelkheim. Die Lebenshilfe bietet Betreuung für mehrfach Schwerstbehinderte, vor allem für Kinder und Jugendliche, an. Aber: "Uns sind dort Grenzen gesetzt, wo ein lebensbedrohlicher Zustand für ein Kind herrscht", sagt Beate Kapp, Leiterin des Familienentlastenden Dienstes der Lebenshilfe. Cedric und seine Mutter hat sie deshalb an einen ihr bekannten Pflegedienst im Hochtaunuskreis verwiesen.

Dort hätte Bettina Reichardt-Kron sogar eine Chance gehabt; das Sozialamt hatte sich auf ihre Anfrage hin schon zur Kostenübernahme bereit erklärt. Doch ein Treffen mit der in Aussicht gestellten Fachkraft sei nicht zustande gekommen: "Sie hat sich trotz mehrerer Anrufe nicht mehr gemeldet", sagt Reichardt-Kron. Den Grund dafür weiß sie nicht.

Eine Alternative, die aus ihrer Sicht alle Probleme lösen würde, ist gesetzlich nicht erlaubt: "Für uns wäre es am besten, wenn wir eine Krankenschwester aus Polen oder einem anderen Land holen könnten" , sagt sie. Dann hätte sie erstens eine verlässliche Fachkraft für ïhren Jungen, die zweitens auch noch finanzierbar sei.

Doch da spielt das Gesetz nicht mit, wie Klaus-Peter Ollbrich vom Arbeitsamt Frankfurt-Höchst bestätigt: "Möglich wäre das für eine Haushaltshilfe, nicht aber für qualifizierte Kräfte." Auch der Vorstoß der Mutter, einen Zivildienstleistenden einzustellen, ist gescheitert: "Das darf ich nicht, weil ich selbst kein Träger bin."

Zu viel Bürokratie, zu wenig Flexibilität, zu hohe Kosten - Bettina Reichardt-Kron fürchtet, dass auch ihre bislang beste Idee daran scheitern wird. Eine Idee, für die sie bereits Mitstreiter und Interessenten aus dem gesamten Bundesgebiet gefunden hat, mit denen sie sich übers Internet austauscht. "Ideal wäre eine Siedlung für Eltern, die ähnliche Probleme haben wie ich", sagt sie.

Das Konzept dazu hat sie schon vollständig im Kopf: jeweils vier Häuser, in Kreuzform angeordnet, verbunden durch eine Art Atrium in der Mitte. Die Eltern, die allesamt über genügend Erfahrung verfügen, könnten sich in der Betreuung der Kinder abwechseln. Die jeweils anderen hätten den Vorteil, endlich mal wieder durchschlafen, zum Arzt gehen, einkaufen oder einfach ausspannen zu können.

"Unter den potenziellen Mitbewohnern gibt es Therapeuten, ärzte, Pfleger, Handwerker", zählt sie auf - Synergieeffekte, die man nutzen könnte. Zur Siedlung sollte ein therapeutischer Bereich mit Bewegungsbad gehören - "das wäre auch was für unsere überlasteten Rücken, nicht nur für die Kinder", sagt die Mutter. Teure Sonderfahrten könnten wegfallen, medizinische Geräte gemeinsam genutzt werden. Und vor allem: "Endlich hätte die totale soziale Verarmung der Angehörigen ein Ende."

40 Häuser plus Therapiezentrum und Kindergarten stellt sich die engagierte Schwalbacherin für den Anfang vor. In zehn Jahren, schätzt sie, hätte sich das Projekt amortisiert. Die Vorteile liegen für sie auf der Hand: "Wir würden die Gesellschaft finanziell entlasten, und wir würden uns selbst wieder ein menschenwürdiges Leben bescheren."